+/m
< Startseite
Blog
x
<
>

1/5

»Pianographique« Maki Namekawa spielt Philip Glass und andere mit Visuals von Cori O´Lan
»Pianographique« Maki Namekawa spielt Philip Glass und andere mit Visuals von Cori O´Lan
Übertragung des Elektronik-Liveacts von Zanshin
»Lorem« Within a Latent Space
»remote/displaced« Äänen Lumo, Aalto University, quietSpeaker
»remote/displaced« Äänen Lumo, Aalto University, quietSpeaker

It makes little difference what kind of man you areIt makes little difference what kind of man you are

Die diesjährige Ars Electronica 2020 findet trotz Corona statt. Eine hybride Form des Festivals haben sich die Veranstalter einfallen lassen. Wenige Teilnehmer und Zuschauer vor Ort. Dafür gleich mehrere selbstgeschaffene Sender und Kanäle, die vom zeitgleichen Geschehen vor Ort berichten. Diskussionspanels prophezeien einen bevorstehenden planetarischen Kollaps und beschreiben die jetztige Pandemie als Auftakt weiterer. Künstler und Musiker kämpfen und feiern mit Künstlicher Intelligenz.

Within a Latent Space von Lorem

Ars Electronica im Jahr der Pandemie

Auch im Jahr der Pandemie gibt es eine Ars Electronica – wenn auch größten­teils in digitaler Form. Nur wenige dürfen anreisen oder real teil­nehmen. Einer davon ist Mario Klingemann. Für seine Installation Appropiate Response hat er ein neuronales Netzwerk mit Lebens­weis­heiten in Satz­form gespeist. Das Netz­werk generiert aufgrund dieses Wissens selbst­ständig neue Sätze wie diesen: it makes little difference what kind of man you are.

Vier Livestreams

Die vier Live­streams des Festivals lassen alle Daheim­gebliebenen am Festival teilnehmen. Ob Podiums­diskussionen, Performances oder Werk­dokumenta­tionen – vier Tage lang wird Medien­kunst in den Orbit gesendet. Mit stabiler Performanz.

Utopisten des „Weiter so“

Dieses Jahr reflektiert die Ars Electronica unter anderem mögliche gesellschaft­liche Folgen der Covid-Krise. Während Utopisten eine Krise mit einem „Weiter so“ leugnen, sehen Realisten die Zukunft deutlich pessimistischer. Während zu Beginn des Milleniums der Fort­schritts­glaube überwog, über­schreiten wir bald einen unumkehr­baren Wende­punkt.

Planetarischer Kollaps

Ein planetarer Kollaps wird immer wahr­schein­licher. Die aktuelle Pandemie ist eher Folge als Ursache. Der erd­geschicht­lich bio­logische Kühl­schrank der sibi­rischen Perma­frost­böden wird aufgrund der Erd­erwärmung auftauen und neben Methan­gasen unzählige gefährliche Viren und Bakterien frei­setzen und über den Erdball verteilen. Weitere Pandemien werden folgen. Medizinische Fehl­schläge sind ebenfalls wahr­scheinlich und werden der Politik keine andere Möglich­keit lassen als autoritär einzugreifen.

Wessen Überleben ?

Um welches Überleben geht es hier ? Um wessen Überleben ? Ein weiteres Mal um das Überleben des Kapitals und um die Freiheit einer neo­liberalen Wirtschafts­ordnung. Lufthansa ist de fakto ein staatlicher Betrieb dessen Gewinne jedoch weiterhin privat verbleiben. Im Sinne von Walter Benjamin besteht die eigentliche Krise im Weiter­machen.

Künstlicher Stau real erzeugt

Neben vielen politisch motivierten Panels gibt es auch wieder eine Cyberarts Ausstellung. So täuscht beispiels­weise Simon Weckert mit Google Maps Hack, Stau vor und bewegt Google dazu, den Verkehr ent­sprechend umzu­leiten. Er verwendet dazu 99 Smartphones. Lauren Lee McCarthy zeigt mit Someone wie wir mit Alexa Komfort gegen Freiheit tauschen. Ein Urgestein der Medien­kunst, Lynn Hershman Leeson, berichtet in ihrer Lesung von ihrem Lebenswerk, das sich um Identität, Programmierung der DNA und Profiling handelt.

Mehrdimensionaler Raum

Künstliche Intelligenz begleitet uns weiterhin thematisch, ins­besondere im Bereich der Musik. Nach wie vor wird hier die Frage aufgew­orfen, was Machine Learning eigentlich ist, welches Verhältnis der Künstler zu ihr hat, und vor allem – wo ihre Grenzen liegen. Machine Learning kann Regeln erkennen und lernen, diese in einem mehr­dimensio­nalen Raum abbilden und Varia­tionen daraus selbst­ständig ableiten.

Regeln brechen, um kreativ zu werden

Eine KI, die wie Bach Musik­stücke spielt, ist zunächst beein­druckend, doch nicht so über­raschend – generative Systeme waren dazu bereits vor einem Jahrzehnt in der Lage. Doch was macht Kreativität eigent­lich aus ? Die Regeln alter Meister zu verstehen und variiert anzu­wenden sicher nicht. Warum werden wir überhaupt kreativ ? Stravinksy wollte Beschrän­kungen überwinden. Dazu hat er Regeln gebrochen. Zuvor musste er das zugrunde liegende System verstanden haben und gewußt haben, worin seine Beschränkungen eigent­lich lagen.

Ungedachte morpho­logische Dimensions­variationen

Doch wie brechen wir Regeln, um neue Lösungen zu finden ? Bei allem Hype um KI spricht im Kontext der Coronak­risa niemand davon, dass Künstliche Intelligenz uns eine Antwort liefern wird. Wie erkennt eine KI, dass eine Variation außerhalb ihres mehr­dimensio­nalen Raums liegt ? Die Stärke einer KI liegt im systema­tischen Durch­forsten eines Möglichkeits­raums – und hier kann eine KI durchaus neue und vorher noch nicht gedachte Ergebnisse liefern, weil Menschen schlecht darin sind, systematisch Variationen in mehreren Dimensionen eines Themas durchzu­spielen. Sie hören meist viel zu schnell auf oder verlassen sich auf bekannte und gelernte Regeln, die sie un­nötiger­weise ein­schränken.

Die erste wirklich digitale Ars Electronica

Aufgrund der vielen Beiträge bleibt eine gründliche Recherche uner­lässlich. Ein Festival zum großen Teil im Netz zu veran­stalten und es vor allem nur so zu besuchen, bedeutet auch viel weniger Exponate zu sehen – also weniger sinn­lich zu erleben. Umso dankbarer ist es, sich Musik­performances wie den Elektro­nik-Liveact von Zanshin anhören zu können. Die etwas andere Ars Electronica wird dieses Jahr digital, was man von einem Festival für Medien­kunst ja auch gewisser­maßen erwartet.

13.09.2020

Weitere Artikel