Der Übermensch rechnet mit Christen ab
Faule und bauernschlaue Menschen zitieren gerne Fragmente bekannter Philosophen, Künstler, Wissenschaftler und Poeten, um sie im eigenen Kontext zu verbiegen. Das Konzept des Übermenschen von Nietzsche ist sicherlich ein Beispiel dafür. Als Sohn eines Landpfarrers geboren, zum Antichrist mutiert, rechnet Nietzsche mit vielem ab – vor allem mit der Moral des Christentums. Im Spätwerk antisemitisch und polemisch trägt er vermutlich zum geistigen Fackelboden folgender Zeiten bei. Vor allem zeigt er jedoch wie christliche Moral erst Sklavenmoral ermöglicht: Die ewig benachteiligten Guten werden im Jenseits zu Rächern der bösen Herrenmenschen, die ohne Gewissensbisse mit Ja und Amen ihre Macht im Diesseits bejahen. Wohl nicht ganz zufällig begründet die Partei mit dem C im Namen im postnationalsozialistischen demokratischen Deutschland lange Zeit ihre Macht auf konservativen bürgerlichen Glaubensbekenntnissen. Während die einen genug von Schuld und Sühne haben, tragen die anderen das Banner des Gedenkens in Scham vor sich her.
Kritik an unterwürfiger Haltung von Kunst
Eben jenseits von Gut und Böse sieht Nietzsche den Mensch in einer postmoralischen Welt, die den Nihilismus als Übergang zum Zustand geistiger Freiheit braucht. Zum Herrenmenschen gegensätzlich sieht er schwache Menschen, die eine Angleichung ihrer in der Menge suchen. Im Geiste einer strengen Aufklärung habe Wissenschaft und Philosophie hier eine besondere Aufgabe zu leisten. Während Nietzsche einerseits für die Kunst als höchsten geistigen Ausdruck schwärmt, kritisiert er andererseits ihre unterwürfige Haltung im Dienste des Wissens und sokratischer Klugheit. Diese Kehrtwende hängt sicherlich mit seinem persönlichen Verhältnis zu Wagner zusammen.
Seichte Banalitäten und grausame Häßlichkeit
In seinen Äußerungen zum Verhältnis von Kunst, Wissenschaft und Ästhetik bezieht er sich auf die griechische Mythologie. Während Apollon dem schönen Schein verfällt, zieht es Dionysos in den Ausbruch einer rauschhaften grausamen Enthemmung einer dunklen Urkraft. Das Grausame und Häßliche wird hier dem Schönen und Seichten als Kraft entgegengesetzt. In Nietzsche finden wir eine Ästhetik des interessant Häßlichen im Gegensatz zur gutmenschlichen Suche nach einer transzendenten Wahrheit, wie sie Kant und Hegel als Rolle für den Künstler beschreiben. Im wissenschaftlichen Mensch sieht Nietzsche vor allem in seiner positivistischen Periode die Weiterentwicklung des künstlerischen Menschen. Gleichzeitig zeigt er seine Abneigung gegenüber einer allzu systematischen Methodik, die eher für mittelmäßige Geister geeignet sei. Denn im ewig Wiederkehrenden sei das Chaos die einzige Konstante. Diese Aussagen sind sicherlich auf Nietzsches persönlichen Erfahrungen mit dem Universitätsbetrieb zurückzuführen – sowohl als Student wie auch als Professor.
Wissenschaft als bessere Kunst
Interessant in diesem Licht wäre die Betrachtung zeitgenössischer, klassischer Kunst und Medienkunst sowie das Verhältnis von Systematik und Intuition im Allgemeinen. Eine stark konzeptionell geprägte wenig sinnliche zeitgenössische Kunst oder Medienkunst wäre nach Nietzsche gesprochen zu sehr in den Dienst einer sokratischen Botschaft gestellt. Gleichzeitig kritisiert er auch einen Fortschrittsglauben, sieht jedoch im wissenschaftlichen Menschen den besseren künstlerischen Menschen – auf Kunst bezogen den Medienkünstler. Die Suche nach dem Wahrhaften und dem Schönen in den klassisch orientierten Künsten befördert hingegen zugleich die Seichtigkeit. Sinnlichkeit als Opponent des Konzeptionellen wäre sowohl schön und seicht als auch düster und zerstörerisch denkbar.
Die Dolce Vita der Relativitätstheorien
Während Nietzsche Systematik wenig abgewinnen kann, obwohl gerade Wissenschaft darauf beruht und deswegen so erfolgreich ist, misst er der Intuition in einer chaotischen Welt um so mehr Bedeutung zu. Hier schlägt das Konzept des künstlerischen und wissenschaftlichen Genies durch, der die zündende Idee hat, während das Fußvolk mit mittelmäßigen Verstand den großen Rest dann abzuarbeiten habe. Nietzsche war weder Wissenschaftler noch Künstler. Wenn Einstein vom zündenden genialen Funken spricht, meint er den großen Rest, den er zuvor durchschritten hat, der ihn erst zum Funken gebracht hat – nicht etwa vom Überspringen des Schritts zuvor: In einer Dolce Vita der Ideengeber gammelt Einstein einen Cocktail schlürfend am Pool und entwickelt zwischen Smalltalk und heißen Miezen die Relativitätstheorie – so in etwa sieht die Welt der Werber aus. In Nietzsches Weltanschauung schneidet der Skeptiker am Ende am Besten ab. Nietzsche sagt vieles und vieles widersprüchlich, was ihn auch nicht so leicht zu fassen macht.